Literarisches Glaubensbekenntnis ...

Erlauben Sie mir mal ein bisschen von mir zu berichten (schließlich ist es meine Homepage, verdammt noch mal).

Als ich 17 war und die Schulbank drückte - ich ging in den Lycée Pasteur, wo Jean-Paul Sartre einst Lehrer war -, saß links unter dem zweiten Fenster ein Kommilitone, Denis mit Vorname, groß, recht hübsch und bei den Mädchen zwar nicht so erfolgreich wie er zu verstehen gab, jedoch vielmehr als der Rest der Klasse zusammen (der Hund!). Denis trug meist einen weiten, schwarzen Mantel. Sein dichtes Beethovenhaar war so gekämmt, als ob er ständig gegen einen starken Wind zu kämpfen hätte. Er lachte äußerst selten, und nur bei seinen eigenen Witzen, mit denen er allerdings sparsam umging. Er lief mit großen, entnervten Schritten, leicht nach vorne gebückt, und sobald wir uns bekannt gemacht wurden, teilte er mir mit, er war Dichter und hatte ein Buch veröffentlicht.

Ich durfte es kaufen. Es war ein Lyrikband. Es war "An Jean-Luc und für Grand'ma" gewidmet. Grand'ma bedeutet in der Sprache von Voltaire soviel wie Omi. Es war das mindeste, was er für Omi tun konnte. Schließlich hatte sie den Druck finanziert.

Der Lyrikband enthielt Gedichte in Alexandrinern. Ich kann mich an ein Vers erinnern, in dem der Autor seine Traurigkeit betonte, nicht im XIX. Jahrhundert geboren und gelebt zu haben. Das war für ihn ein Drama, wie er uns häufig erklärte - um so härter, das er damit täglich konfrontiert wurde. Obwohl er recht oft die Schule schwänzte und seine Abwesenheiten mit rätselhaften, meist von ihm selbst unterschriebenen Begründungen rechtfertigte ("psychische Erschöpfung") - ich frage mich immer noch, wie es ihm überhaupt gelang, nicht rausgeschmissen zu werden - war dieser Denis ein brillanter Schüler. Er erzielte weit bessere Noten bei den Französischaufsätzen als ich, der nicht mal fähig war, unter psychischer Erschöpfung zu leiden, und ansonsten tat er etwas, wofür wir ihn noch mehr beneideten und bewunderten: die Fächer, für die er sich nicht erwärmen konnte - Mathematik, Physik, Chemie, Englisch -, ignorierte er einfach. Doch, es funktionierte, offensichtlich.

Einige Jahre später traf ich Denis in der Metro, auf dem Gleis der Station Saint-Michel, Richtung Porte d'Orléans. Er trug immer noch einen schwarzen Mantel und war noch bierernster geworden. Ich fragte ihn, wie es ihm ging. Diese Frage schien ihn besonders zu interessieren und er ging ausführlich darauf ein. Als Zeichen der Verbundenheit ließ er mich sofort wissen, er besuchte eine Fachhochschule für Literatur oder so Ähnliches und wollte der erste seines Jahrgangs sein, "was ich im Moment bin, wenn du so willst."

Ich sollte ihm dankbar sein. An diesem Tag hat er mir einen außerordentlichen Gefallen getan. Er hat mir endgültig bewiesen, dass Begabung und Brillanz völlig unnützlich sind, wenn sie nicht von einer Portion Humor und einer Portion Bescheidenheit begleitet sowie gezähmt werden. Das hat mir, dem nicht besonders Begabten, dem ganz Normalen, ein für allemal den Weg geöffnet. Ich habe meine Trauer nach fehlender Begabung fröhlich begraben und die Weichen meiner zukünftigen Literatur gestellt: ich beschloss, eine Literatur ohne Miene zu schreiben, ohne psychische Erschöpfung; eine Literatur, die sich mit meiner Zeit befasst und kein vergangenes Jahrhundert nachweint, eine Literatur, die den epischen Ton misstraut und vor allem eine Literatur, die nicht als Spielzeug für das Ego des Autors missbraucht wird. Kurz: Eine aufrichtige Literatur.

Heute beurteile ich Prosa, meine eigene und die der anderen, immer noch nach diesen einfachen und nicht nur für Literatur geltenden Kriterien: Ist sie ehrlich oder gefälscht? Kommt Leichtigkeit vor, oder grandiose Schwerfälligkeit? Ist sie aufgeblasen oder eher schlicht? Stolziert der Autor vor dem Leser herum oder bleibt er unauffällig im Hintergrund, da, wo er hingehört (das hat übrigens mit der Verwendung der Ich-Form nichts zu tun) ? Gehört Ironie dazu, oder ist sie todernst?

Gerade habe ich bei www.amazon.fr nach Werken von Denis gesucht. Von Denis kennt amazon lediglich einen Kommentar zu und in dem Werk eines anderen, schon längst verstorbenen und vergessenen Schriftstellers.